FAT TIRE REVIVAL
AXEL COLLEIN | FOTOGRAFIE
Wieso ich mich gegen eine Federung und Elektro-Hilfsantrieb am Fahrrad entschieden habe?
Ein Erklärungsversuch.
[unbezahlte Werbung] Meine erste Fat Tire Erfahrung hatte ich im Jahr 1990. Damals hatte ich Heidelberg zu meiner Wahlheimat gemacht. Der monatlichen Aufwand für die Miete einer Wohnung in der Stadt war so hoch, daß ich dafür mein Auto verkaufte. Mit staunenden Augen stand ich ungefähr zur gleichen Zeit im einem der modernsten Bikeshops seiner Zeit, der damals seine Räder wie in einer Galerie präsentierte.
Mountainbikes aus der USA
Aufgeschlossen war ich für diese Mountainbikes aus USA mit den dicken Reifen nicht. Bisher hatte ich doch auf eines der schicken Rennräder gespart, die viel leichter und schneller aussahen. Vorurteile wie Rollwiderstand und Gewicht waren wie eine Blockade in meinem Kopf. Andererseits war ich als Jugendlicher, nachdem ich kein cooles BMX Rad bekam, mit einem umgebauten Kinderrad vom Sperrmüll durch die Wälder gesaust. Diese Fat Tire Bikes sahen nach jede Menge Spaß aus die auch mehr Haltbarkeit im täglichen Straßenverkehr versprachen, als ein Rennrad. Gereicht hat mein Budget dann Anfangs nicht für eines der wunderschönen Germans Cycles aus Heidelberg.
Heavy Tools mit Felgenkneifer
Ein „Heavy Tools Alu comp 2000“ mit mittelmäßiger Shimano Ausstattung und Felgenkneifer als Bremsen, kostete damals auch schon 2000 Mark. Ein harte Gabel und ein ebenso steifer Rahmen aus Aluminium mit 2,1 Zoll breiten Stollenreifen und ohne Sattelschnellspanner. Damit bin ich gemeinsam mit der Samstagsgruppe des Bikeshops meine ersten Runden über den Königsstuhl in Heidelberg gestrampelt.
An die erste Abfahrt kann ich mich noch gut erinnern. Die nahm ich lieber mit den Frauen der Gruppe, die den gleichen Weg wie bergauf zurück fuhren. Das was mir die Männer beim Gipfelbier von der bevorstehenden Abfahrt erzählt hatten, war mir unheimlich. Mit ein wenig Überwindung wurde es für mich der größte Spaß und schönste Sport auf zwei Rädern.
Der Spaß wächst mit jedem neuen Bike
Insgesamt bin ich rund 5000 km im Jahr gefahren. Mit dem Studium, Arbeit und Familie wurden die Ausfahrten kürzer und seltener. Nach der ersten einfachen Federgabel mit Elastomer Puffern, kam die nächste Federgabel schon mit Stahlfeder und offenem Ölbad daher. Das erste Fully mit Doppebrückengabel und 100 mm Federweg, war für mich der Einstieg in den Downhill Sport. Ungefähr gleichzeitig mit der Eröffnung des Bikeparks Bad Wildbad im Jahr 2000. Die Federwege wurden länger, die Geschwindigkeiten höher, die Sprünge weiter und die Stürze nachhaltiger.
Noch näher an der Mountainbike-Szene
Mit dem Einstieg in die Sportfotografie im Jahr 2009, konnte ich den Kontakt zur Mountainbike Szene ausbauen und war somit eigentlich nur noch als Packesel und Fotograf auf dem Mountainbike unterwegs. Bis Mitte 2014 hatte ich mir einige Custom-Bikes nach meinem Vorstellungen zusammengestellt und meistens selbst aufgebaut. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich in der Not alles verkaufen musste, was mir lieb und teuer war.
29 Zoll und Gravel what?
Inzwischen sind wir im Jahr 2019 angelangt und ich habe die mittelschwere Beeinträchtigung durch einen Schlaganfall im November 2015 ganz gut im Griff. Seit gut einem Jahr kann ich alleine längere Strecken mit dem Fahrrad zurücklegen. Die Sicherheit steigt durch eine gesteigerte Koordinationsfähigkeit und meine allgemeine physische Verfassung. Der Wunsch sich der besten Bewegungsart der Welt, dem Mountainbiken wieder zu widmen steigt nicht nur in der Fotografie.
Noch viel mehr war der Wunsch danach wieder gewachsen die Stollenreifen auf losem Waldboden zu erleben. Ich begann damit mich mit der aktuellen Technik der Mountainbikes und Gravelbikes auseinander zu setzen um herauszufinden was für meine Bedürfnisse die richtige Wahl sein kann.
Hops und Flops der Bike Geschichte
Im Jahr 2012 hatte ich mit dem Fotografen und langjährigen Technik Redakteur des bike magazin Markus Greber, im Rahmen des Lensecape Workshops ein interessantes Gespräch über Hops und Flops der Bike Geschichte. Es waren laute Schenkelklopfer dabei, wie auch die Einsicht dass ich als Endverbraucher auf Empfehlungen der Auflagenstärksten Magazine, jede Menge Geld für Schrott ausgegeben hatte.
Die besten Innovationen waren Scheibenbremsen und versenkbare Sattelstützen. Die Federung der Gabel und des Hinterbaus, ist nicht für jeden ein Gewinn, darüber waren wir uns einig. Entsprechend kritisch ging ich an die Sache heran. Schnell war für mich die Entscheidung getroffen, wenn dann nur ein Komplettrad mit 650B also 27,5″ Laufrädern zu ordern. An dem fehlenden Vertrauen zur Stabilität von 29″ Laufräder, ändert auch der Boost-Standard für mich nichts.
Ausserhalb der Norm oder einfach zu schwer
Auf Grund meines Körpergewichts das immer noch nicht wieder die „UHU“ Schallmauer unterschritten hat, war ich auch gegenüber den Standardmäßig verbauten Dämpfer und Federgabeln in den Mountainbikes kritisch eingestellt. Betrachtet man die Herstellerangaben für den empfohlenen Luftdruck der Federelemente, dann endet der bei den meisten bei 110 kg Fahrergewicht. Auch hier wäre für mich ein individueller Umbau auf Stahlfeder und großvolumige Dämpfer sinnvoll, aber teuer gewesen.
Viel entscheidender war aber für mich die Erkenntnis als ich 2019 ein vollgefedertes E-MTB beim örtlichen Radhändler ausgeliehen hatte und mit Hilfe des Elektromotors, ohne große Mühe von Heidelberg bis auf den Königsstuhl gekommen bin. Eigentlich toll. Bei der Talfahrt zeigte mir das über fünftausend Euro teure Gefährt schnell meine Grenzen auf. Das Mehrgewicht des E-Bike, bedingt durch Akku und Motor war für mich, mit fehlender Kraft und Schnelligkeit nur schwer zu beherrschen. Dazu kam die sehr weiche Hinterbau, obwohl ich den Dämpfer nach Herstellerangabe auf ungefähr 8 bar aufgepumpt hatte. Die Front agierte zwar sehr komfortabel , meine Lenkbewegungen wurden jedoch unpräzise umgesetzt und waren mit zunehmender Geschwindigkeit nur noch schwammig.
Mein Fazit und Kaufentscheidung.
Mein Budget für die Anschaffung eines neuen Mountainbikes, war hoch angesetzt. Die Erfahrung mit dem E-Bike und die Erkenntnis dass sich meine Gewichtszunahme, reduzierte Ausdauer und Schnellkraft nicht durch einen Hilfsantrieb und Federung ausgleichen lassen, brachten mich zurück zum Gravel-Bike. Irgend etwas schickes musste es sein!
Vernünftigerweise habe ich dann zuerst mein vorhandenes Rennrad, „Germans Road“ mit dickeren Reifen bestückt um einen weiteren Versuch zu starten. Erneut war der Stahlrahmen ein Gedicht an Fahrkomfort, jedoch war mein Bauch der tief gebückten Sitzposition ständig im Weg und schränkte meine Atmung doch etwas ein. Auch mein Nacken schmerzte nach einer halben Stunde so stark, daß ich zwischendurch freihändig fahren musste um ihn zu lockern.
Stahl muss schon sein
Auf dem Flairbicyclefestival in Heidelberg wurde ich auf verschiedene Hersteller aufmerksam, die sich wieder dem Thema Stahlrahmenbau verschrieben haben. Einige wenige Mitarbeiter bei den Ausstellern waren abseits des Mainstream selbst mit ungefederten Rädern im Wald unterwegs und konnten meine Bedenken nachvollziehen. Noch weniger Hersteller hatten allerdings dafür überhaupt aus meiner Sicht eine Lösung anzubieten. Nach dem Besuch des Festivals hatte ich eine genaue Vorstellung davon wie mein Traum-Bike aussehen muss.
Ein Hardtail-Stahlrahmen, Laufradgröße 27,5″. Reifenbreite bis 3″. Mit dem dickeren Reifen erhoffte ich mir ein plus an Komfort und Sicherheit. Eine starre Gabel für mehr Präzision und Rückmeldung aus dem Terrain um das Mountainbiken wieder neu zu lernen. Irgendwann surfte ich bei einem altbekannten Hersteller vorbei. MARIN Bikes hatte mit dem Modell „Pine Mountain“ genau meine Vorstellungen im Programm. Für ein sehr gutes Angebot nahm ich die aufgeschweißten Verstärkungsbleche am Steuerrohr des Stahlrahmen in Kauf. Mit der Gewissheit, dass diese meinem Versuch das ideale Bike für den Wiedereinstieg zu finden nicht im Weg standen.
Frisch vergnügt mit einem Komplettrad
Hatte ich mich zuvor noch entschieden den Rahmen einzeln zu kaufen und individuell zu bestücken, so war ich über mein Entscheidung ein Komplettrad im Internet zu bestellen umso glücklicher. Die Komponenten wie Bremse und Antrieb hatten zwar keine wohlklingende Namen, mit ein wenig Recherche war aber klar dass es sich um Serienteile handelte, für die man vor kurzem noch mit dem aufgedruckten Komponentenlabel mehr bezahlt hätte. Keine schlechte Wahl also. Alle weiteren Einzelteile wie Lenker, Vorbau, Sattel und Stütze sind austauschbar und werden sowieso im Laufe der Zeit durch individuelle Vorlieben ersetzt.
Die vom Hersteller verbaute, einfachste Federgabel von Rock Shox musste einer Stahlgabel von Salsa weichen. Der mitgelieferte Laufradsatz wurde ebenfalls durch einen eigenen Laufradsatz mit NoTubes ZTR-MK3 Felge und Hope Pro-4 Naben ersetzt. Die gewählten Naben haben für mich den entscheidenden Vorteil dass Sie ohne größeren Aufwand auf die unterschiedlichen Einbaubreiten von Rahmen und Gabel angepasst werden können. Der aktuelle Rahmen hat den sogenannten Boost-Standard, der breiter ist als die meisten Rahmen am Markt. Sollte ich mich irgendwann für einen anderen Rahmen entscheiden, sind die teuer erstandenen Laufräder mit den Naben, weitestgehend kompatibel zu dem meisten Fahrradrahmen.
Der Lack ist ab und der neue umso schöner
Nachdem alle neu hinzugekauften Komponenten verbaut und zur Probe gefahren wurden, war meine Begeisterung für mein neues Mountainbike bereits groß. Die Lackierung des Pine Mountain entsprach aber gar nicht meinen Vorstellungen. Für eine neue Pulverbeschichtung in Perl-Dunkelgrau entschied ich mich für die Spezialisten in der Fahrrad Lackierung, Götz Pulverbeschichtung in Fellbach bei Stuttgart.
Das neue alte Fahrerlebnis. Mein Fat Tire Revival
Inzwischen habe ich einige hundert Kilometer auf dem Rad zurücklegen können und mich an das Ziel Hausberg gewagt. Die ersten Ausfahrten mit den Original verbauten 2.8“ dicken Reifen waren nachdem ich den richtigen Luftdruck gefunden hatte, zusammen mit dem Stahlrahmen ein Gewinn an Komfort und Spaß. Die Wege führen meist über Asphalt und Schotter, wobei der höhere Rollwiderstand der Reifen die fehlenden Steigungen in meiner Wahlheimat ersetzt. Auch wenn ich immer wieder Kopfschütteln ernte wenn ich mit meiner ureigenen hohen Trittfrequenz an Rennradfahrer und Pedelecs vorbeifahre.
Mein persönliches Wohlempfinden steht über den Konventionen
Das persönliche Wohlempfinden steht für mich über den Konventionen mancher Mitmenschen, die vielleicht auch nicht ausreichend über ihre eigene Wahl des Fahrrads nachgedacht haben. Die erste Abfahrt auf meinen geliebten Singletrails oberhalb von Heidelberg, war für mich das Fat Tire Revival nach 30 Jahren. Mit dem Unterschied, dass ich mit der Scheibenbremse und den dickeren Reifen wesentlich mehr Sicherheitsgefühl beim Ab-fahren hatte als damals. Im Augenblick möchte ich nur noch ein versenkbare Sattelstütze nachrüsten, das ist Alles.